Lösungsansätze
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über potenzielle Stressoren im Wissenschaftssystem und deren Auswirkung auf das subjektive Wohlbefinden von Lehrenden ist es wichtig, die individuelle Resilienz zu erhöhen. Dabei ist es nicht das Ziel, noch leistungsfähiger zu werden, und wohltuende Maßnahmen zur Leistungssteigerung einzusetzen. Es geht darum, gemäß der Definition von Resilienz zu Beginn dieses Beitrags, „trotz Widrigkeiten die psychische Gesundheit zu erhalten oder wiederzuerlangen“ (Wald et al. (2006)).
Bildlich können Sie sich das so vorstellen: Wenn Sie einen Teelöffel Salz in ein Trinkglas mit Wasser schütten, haben Sie stark salzig schmeckendes Wasser. Das Glas mit Wasser symbolisiert Ihre Resilienz, das Salz die Stressoren. Wenn Sie den Teelöffel Salz dagegen in einen Eimer Wasser schütten, ist der Geschmack kaum beeinträchtigt. Der Eimer Wasser steht symbolisch für eine erhöhte Resilienz, während die Menge der Stressoren sich nicht verändert.
Wie lässt sich die Resilienz trainieren? Ein geläufiges Schlagwort lautet „Stressmanagement“. Das ist genauso individuell wie die Faktoren, die Ihr subjektives Wohlbefinden beeinträchtigen. Deshalb werden im Folgenden unterschiedliche Methoden vorgestellt.
Expressives Schreiben
Stressabbau kann zum Beispiel schreibend erfolgen. Neudeutsch „journalling“ genannt und in hübsch gestaltete Notizbücher oder „Journals“ verpackt, meint es nichts anderes als Tagebuchschreiben. Interessant ist hier die Forschung des Psychologen Pennebaker, der Schreiben intensiv untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass es zu einer fühlbaren Entlastung führen kann, wenn Sie sich emotional Aufrüttelndes von der Seele schreiben. „Schon wenn Testpersonen sich eine Viertelstunde Zeit nahmen, um sich eine bedrückende Lebensepisode vor Augen zu führen und niederzuschreiben, was sie in der Erinnerung daran bewegte, wurde ihnen wohler ums Herz. Wer sich dies per Tagebuch zur Gewohnheit machte, stärkte sein Wohlbefinden und sogar sein Immunsystem.“ (Saum-Aldehoff, 2023)
Expressiv, oder auch freies Schreiben genannt, meint, einfach drauf loszuschreiben, ohne Struktur oder Ergebnisorientierung. Wenn Sie denken „Mir fällt gerade nichts ein“, dann schreiben Sie genau das (handschriftlich) auf, und dann jeden weiteren Gedanken. Sie können diese Methode für eine fest definierte Zeit (z.B. zehn Minuten) oder eine fest definierte Seitenzahl (z.B. drei Papier-Seiten) ausführen.
Eine andere Möglichkeit des Schreibens ist eine gezielte Reflexion, z.B. jeden Abend für wenige Minuten. Dafür ist zu Beginn ein Notizbuch mit bereits abgedruckten Reflexionsfragen hilfreich, oder Sie notieren sich diese selbst. Beispiele für geeignete Fragen sind:
Was ist heute gut gelaufen?
Worauf bin ich heute stolz?
Wofür bin ich heute dankbar?
Insbesondere Dankbarkeit hat einen positiven Effekt auf das Empfinden von Zufriedenheit. Umgekehrt kann sich fehlende Dankbarkeit negativ auf das subjektive Wohlbefinden auswirken: Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diejenigen, die selten Dankbarkeit empfanden, häufiger von depressiven Zuständen berichteten (Büssing, 2021).
Achtsamkeit
Achtsamkeit ist ein oft genanntes Konzept, wenn es um Stressreduktion und den Aufbau von Resilienz geht. Oft wird sie in einen Topf geworfen mit Meditation, oder reduziert auf einzelne Übungen. Dabei meint Achtsamkeit ein im-Moment-Sein mit voller Akzeptanz für das, was ist. So verstanden ist Achtsamkeit vor allem eine Frage der Haltung, die in jeder Lebenslage eine Rolle spielt.
Ein besonders prominentes Konzept ist MBSR, kurz für mindful-based stress reduction, von Jon Kabat-Zinn. Er hat Achtsamkeit definiert über die beiden bereits genannten Aspekte: Bewusstheit, also die Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment, und Akzeptanz, also eine offene und annehmende Haltung für das, was Sie in diesem Moment wahrnehmen können. Die Teilnahme an zertifizierten MBSR-Kursen wird größtenteils bis komplett von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Auch wenn hinter präventiven Angeboten bei Krankenkassen ein eigenes finanzielles Interesse besteht, ist die Studienlage zu Achtsamkeitstraining deutlich, und es kommen immer neue Studien hinzu: Die Wirkung reicht „von regelmäßigen Achtsamkeitsübungen zur Verbesserung von psychischen Gesundheitsparametern wie etwa der Steigerung von Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit oder Lebenszufriedenheit und der Zunahme von Stressbewältigungsfähigkeiten hin zu somatischen Auswirkungen wie der Senkung des Stresshormons Cortisol im Blut oder verminderter Schmerzempfindlichkeit (Grossman et al., 2004).“ (Koch/ Zinzius, 2023)
Wie können Sie über die genannten kleinen Übungen hinaus Achtsamkeit in Ihren Alltag integrieren? Zum einen haben Sie die Möglichkeit, unterschiedlich lange explizite Achtsamkeitsübungen zu machen, z.B. sich drei Minuten lang nur auf Ihre Atmung zu fokussieren, sich für mehrere Minuten eine geführte Meditation über eine Achtsamkeits-App anzuhören, oder z.B. einen längeren Bodyscan vorzunehmen. Wichtig ist dabei, egal, ob Sie sich auf Empfindungen in Ihrem Körper oder Reize, die Sie im Inneren oder Äußeren wahrnehmen, konzentrieren: Werten Sie nicht. Es ist wie es ist. So wie Gedanken, Geräusche oder Gerüche weiterziehen, vergehen auch Gefühle. Es geht also nie um eine toxische Positivität, sondern um eine wertungsfreie Wahrnehmung und Akzeptanz des Ist-Zustands.
Achtsamkeit lässt sich „nebenbei“ erleben und trainieren. Versuchen Sie Ihren morgendlichen Kaffee im Büro mit allen Sinnen bewusst wahrzunehmen. Fühlen Sie in Ihre Füße, während Sie über den Flur laufen. Die Integration von Achtsamkeitsübungen in den beruflichen Alltag kann helfen, mit dem Job zufriedener zu sein und Stress weniger stark zu empfinden, ergab schon 2018 eine Studie (Slutsky et al.).
Achtsam zu sein in der Lehre bedeutet darüber hinaus die aufmerksame und wertungsfreie Wahrnehmung dessen, was in der Lehre passiert. Wie lernen die Studierenden in Ihrer Lehrveranstaltung am besten? Wo stehen sie individuell im Lernprozess und welche Unterstützung brauchen sie? Der Schweizer Ethik-Professor und Hochschuldidaktiker Christof Arn sieht diese intensive Wahrnehmung als den Kern von lernendenzentrierter Lehre an (vgl. Arn 2017). Das erfordert Übung, deshalb empfiehlt er, sich Schritt für Schritt an diese Haltungs-geprägte Lehrweise heranzutasten.
Das lohnt sich für den Lernerfolg der Studierenden: Studien weisen ausdrücklich darauf hin, dass Stress bei Lehrenden sich negativ auf das Engagement und das Verständnis des Lernstoffes bei Studierenden auswirkt (Emerson et al., 2017). Lave & Berkovich-Ohana (2020) haben erforscht, dass eine Achtsamkeitspraxis Lehrender einen Effekt auf ihr Wohlbefinden hat, der sich letztlich in der Effektivität der Wissensvermittlung, dem Wohlbefinden der Studierenden und ihrem Lernerfolg widerspiegelt.
Zu achtsamem Leben gehört auch, die eigenen Emotionen nicht zu unterdrücken. Emotionen in der Lehre sind ein noch sehr kleines, teils belächeltes Forschungsfeld. Gleichzeitig ist erwiesen, dass es für Menschen wichtig ist, alle Emotionen, die in ihnen auftauchen, wahr- und anzunehmen. Das bedeutet, die vermeintlich negativen Emotionen, die sich belastend anfühlen, nicht wegzudrücken, sondern genauso zu akzeptieren und da sein zu lassen wie die als positiv konnotierten. Diese Form der Akzeptanz dessen, was in einem Moment da ist, und Kultivierung von Selbstmitgefühl als einer liebevollen Haltung sich und dem inneren Erleben gegenüber helfen, sich auch in schwierigen Situationen oder Zeiten widerstandsfähiger zu fühlen. Sie werden, wenn Sie darin geübt sind, merken, dass Sie z.B. in einer Lehr- Situation, in der Sie Wut aufsteigen fühlen, diese als solche wahrnehmen können statt sofort dem Impuls, wütend zu reagieren, nachzugeben. Sie schaffen also einen Raum zwischen Reiz und Reaktion durch das bewusste Fühlen von Emotionen, auch wenn sie wie Wut als negativ gelten.
Atemübungen
Eine Form von Achtsamkeit kann die bewusste Atmung sein. Mit Atemtechniken, z.T. als Breathwork bezeichnet, können Sie Ihren Körper in Entspannung führen, und so aus dem Stresserleben herauskommen (vgl. z.B. Hinterberger et al., 2019). Für den Einstieg in die Welt des bewussten Atmens können Sie mit zwei Minuten beginnen, z.B. indem Sie sich einen Timer auf dem Handy stellen, oder die Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen bestimmten Haltestellen nutzen. Sie setzen sich so aufrecht und gleichzeitig bequem wie möglich hin. Zuhause oder im Büro können Sie sich dafür auch auf die Kante eines Kissens setzen, so dass Sie schon fast wieder herunterrutschen: Dann kippt Ihr Becken nach vorne und das aufrechte Sitzen fällt Ihrem Körper leichter. Wenn Ihnen das möglich und angenehm ist, schließen Sie die Augen, oder Sie suchen sich einen Punkt vor Ihnen auf dem Boden. Sie atmen bewusst ein, und gerne so langsam und lang wie möglich aus. Die Ausatmung zählen Sie immer von eins bis neun. Sprich: Einatmen, ausatmen, eins. Einatmen, ausatmen, zwei. Wenn Sie bei der neun angekommen sind oder sich zwischendurch verzählt haben oder sich bei einer höheren Zahl ertappen, dann beginnen Sie wieder bei eins.
Eine weitere Möglichkeit, die sich ohne Anleitung üben lässt, ist die 4-6-8-Atmung. Sie atmen auf vier Zählzeiten (gerne Sekunden) ein, dann halten Sie den Atem an für sechs Zählzeiten, und atmen auf acht Zählzeiten aus. Durch die verlängerte Ausatmung aktivieren Sie Ihren Parasympathikus, den für Entspannung verantwortlichen Teil Ihres autonomen Nervensystems. Denn wer die Zeit hat, langsam auszuatmen, muss aktuell nicht vor dem Säbelzahntiger weglaufen. Und das Anhalten des Atems – ohne Zwang, ohne Druck, es sollte sich idealerweise nach einem „stehenlassen“ der Einatmung anfühlen – beruhigt Ihr Nervensystem zusätzlich, zudem wirkt es sich positiv auf die Erhöhung der CO2-Toleranz im Blut aus. Im Blut der Personen, die eine hohe CO2-Toleranz besitzen, kann mehr Sauerstoff ungebunden an die Zellen abgegeben werden, was wiederum der Zellgeneration hilft. Sie trainieren somit durch Atemtechniken Ihre Resilienz und verbessern die Sauerstoffversorgung Ihrer Zellen. Sie könnten auch bei dieser Übung mit zwei Minuten beginnen und sich langsam auf z.B. zehn Minuten steigern.
Und wenn Sie jetzt sagen: „Ich hab keine zehn Minuten dafür“, dann gilt das buddhistische Sprichwort „Dann nehmen Sie sich zwanzig Minuten.“ Denn immer dann, wenn der Stress so groß ist, dass wir das Gefühl haben, uns keine Zeit für uns z.B. in Form einer solchen kleinen Atemmeditation zu nehmen, dann ist der Bedarf besonders groß.
Yoga
Yoga ist in aller Munde und gleichzeitig behaftet mit vielen Vorurteilen. Es geht im Yoga weder um stilles Dasitzen ohne zu denken noch um ein Verbiegen des Körpers für Instagram-taugliche Fotoposen. Das Wort Yoga bedeutet so viel wie Verbindung, und in einer der wichtigsten Schriften zu Yoga heißt es übersetzt, Yoga sei das zur Ruhe kommen der Bewegungen des Geistes. Es geht also darum, eine Verbindung zu sich selbst aufzubauen, und nicht ins Grübeln oder andere Gedankenschleifen zu verfallen. Damit eignet sich Yoga, um Resilienz aufzubauen.
Die Schwierigkeit besteht darin, den individuell passenden Yoga-Stil und die persönliche Ausführung zu finden:
„The teachings of Prof. Tirumalai Krishnamacharya and his son T.K.V. Desikachar are based on the principle that yoga must be continually adapted to the individual’s changing needs in order to achieve the maximum therapeutic value. This is yoga adapted to the needs of the individual“ (Whitwell, 2020).
Denn während Sie vielleicht ein sehr sportlicher Mensch sind, der mit kraftvoll-dynamischen Yoga-Einheiten besonders gut zur Ruhe kommt, braucht Ihre Kollegin vielleicht einen größeren Fokus auf Meditation in Bewegung, und Ihr Kollege bevorzugt vielleicht passive Yoga-Stile. Die Ruhr-Universität bietet deshalb im Hochschulsport und im betrieblichen Gesundheitsmanagement für Beschäftigte ein Spektrum an Yoga-Stilen an. Zu Atem-geführter Yoga-Praxis gibt es ebenfalls Befunde hinsichtlich der Wirksamkeit, subjektives Wohlbefinden und Resilienz aufzubauen: „Breath-centric yoga is a proven modality to reduce anxiety and depression, increase self-esteem and body confidence, and overall quality of life“ (Raba/ Whitwell/ Atkinson, 2020). Im Übrigen stammen die meisten der heute bekannten Atemübungen und -techniken aus dem Yoga.
Bewegung
Vielleicht war das bei Ihnen bis zur Pandemie auch so: Sie waren ständig in Bewegung, weil die Räume, in denen Sie unterrichtet haben, und Ihr Büro, die Mensa, die Besprechungsräume, etc. weit auseinander lagen. Und nun sind Sie immer wieder im Homeoffice oder führen Besprechungen und Lehre online per Videokonferenz durch, so dass eines zu kurz kommt: die Bewegung. Ganz abgesehen davon, dass Sie vielleicht zu denen gehören, die nur selten bewusst ihre Wirbelsäule, ihren Brustkorb, ihre Arme und ihre Hüfte in Bewegung bringen.
Dabei wissen wir aus unterschiedlichsten Untersuchungen, dass der menschliche Körper Bewegung braucht, mit ebenso umfangreich dokumentierten (Langzeit-)Folgen, wenn diese ausbleibt. Wie wäre es mit kurzen bewussten Pausen, in denen Sie sich strecken und recken, Muskeln belasten und entlasten? Inspiration gibt es im Internet zuhauf, wir haben hier einen zu Kontaktbeschränkungs-Zeiten entstandenes Kurz-Video des Hochschulsports der Ruhr-Uni Bochum für Sie.
Sind Sie schon mal achtsam durch die Gegend gelaufen? Vielleicht sogar durch den Wald oder gar barfuß über eine Wiese? Eine Gehmeditation kann das Richtige für Sie sein, wenn Sie sagen „zwei Minuten still sitzen kann ich nicht“. Auch hier definieren Sie eine feste Zeit z.B. mittels Handytimer oder Sie probieren es ohne Limit aus. Ihr Körper bleibt in Bewegung, während Sie Ihren Fokus auf das richten, was Sie spüren, sehen, hören, und riechen können. Besonders auf Ihre Füße lohnt es sich bei einer Gehmeditation die Aufmerksamkeit zu richten. Welche Stellen belaste ich wann? Wie fühlen sich links und rechts an? Solche Fragen können Sie sich stellen, während Sie durch die Natur oder auch durch die Straßen Ihrer Stadt gehen.
Entspannungstechniken
Es gibt viele weitere Techniken, die für Entspannung im Körper, im Geist und damit im ganzen Nervensystem sorgen können. Auch hier gilt, dass Sie für sich herausfinden dürfen, welche Entspannungstechnik Ihnen hilft. Eine Möglichkeit ist die progressive Muskelentspannung (PME), die Sie in variabler Dauer ausführen können. Sie können dafür liegen, und Sie können die Übung im Sitzen oder Stehen für sich nutzen.
Sie spannen einen zuvor definierten Muskelbereich erst an, so stark Sie können, und lassen ihn dann bewusst los. So bringen Sie beispielsweise erst aktiv viel Anspannung in Ihre Hände, ballen Fäuste mit aller Kraft, und lockern dann schnell und komplett. So gehen Sie den ganzen Körper durch, d.h. Sie sorgen für eine gut spürbare Muskelentspannung dadurch, dass Sie vorab größtmögliche Anspannung in diese Muskelpartie bringen.