Wie sehen typische Prüfungen aus?
Typische Prüfungen in der Elektrotechnik sind gerade zu Studienbeginn aufgrund der relativ großen Kohorten schriftliche Prüfungen, in denen die jeweils eigenständige Leistung der Studierenden geprüft werden soll. Um Plagiate und einen Austausch der Studierenden untereinander sowie mit Dritten auszuschließen, finden solche Prüfung meist in abgeschotteten Prüfungsräumen mit eingeschränkten Hilfsmitteln statt. Der Fokus liegt dabei klar auf fachlichen Kompetenzen. Außerfachliche Fähigkeiten, z. B. nach dem 4K-Modell wie Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken sind nicht Teil der Prüfung, obwohl diese im späteren Berufsleben nicht unerheblich sind. Ein Vorteil solcher schriftlicher Prüfungen ist nichtsdestotrotz die objektive Bewertungsmöglichkeit, die jedoch manchmal die Note in den Vordergrund stellt und dabei das aus Studierendensicht so sinnvolle und notwendige lernförderliche Feedback in den Hintergrund treten lässt.
Bei kleineren Kohorten von weniger als etwa 20 Studierenden sind mündliche Prüfungen mit jeweils etwa 30 min bis 45 min Dauer üblich, zum Teil auch als etwas längere Gruppenprüfung mit mehreren Prüflingen gleichzeitig. Diese sind naturgemäß meist etwas mehr auf die Abfrage und die Diskussion von Fach- und Konzeptwissen und weniger auf die spezifische Demonstration von Rechenkompetenzen ausgelegt. Ein weiteres übliches Prüfungsformat sind schriftliche Protokolle von Laborpraktika, in denen Studierende zeigen sollen, dass sie ihre eigenen Ergebnisse nachvollziehbar und fachlich korrekt dokumentieren können.
Relativ unüblich in der Elektrotechnik und allgemein in den Ingenieurwissenschaften sind alternative Lehr-, Lern- und Prüfungsformate wie Service Learning oder Projektlernangebote, in denen auf interdisziplinäre Art und Weise Studierende verschiedener Fachrichtungen zusammenkommen und gemeinsam an praktischen Aufgabenstellungen arbeiten. Auch Prüfungsformate, die formelles und informelles Lernen sowie fachliche und außerfachliche Schlüsselkompetenzentwicklung geschickt miteinander kombinieren und in denen z. B. auch multimediale Inhalte (wie Podcasts oder Videos) als Prüfungsleistung erstellt werden, sind nicht weit verbreitet. Solche Formate sind aus meiner eigenen Erfahrung typischerweise nicht sehr komplex in der Umsetzung, aber sehr betreuungsintensiv und zeitaufwendig für die beteiligten Lehrpersonen, insbesondere wenn man den Studierenden auch zeitnahes und konstruktives Feedback geben möchte. Da dieser Zeitaufwand durch zu wenige Dauerstellen im akademische Mittelbau oft nicht realisiert werden kann und z. B. auch nicht durch die üblichen Deputatsregelungen abgedeckt wird, finden solche aus Studierendensicht immer wieder gut bewerteten Formate leider nur geringe Verbreitung.
Das Öffnen von schriftlichen Prüfungsformaten im Sinne von Open-Book- und Open-Web-Prüfungen habe ich an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg in den „Grundlagen der Elektrotechnik“ in verschiedenen Varianten durchgeführt, als Take-Home-Variante oder in Präsenz, siehe [Mag23]. Die Studierenden saßen dabei entweder zuhause, in einem Computerlabor oder im Hörsaal und konnten dabei stets digitale Endgeräte nutzen. Die Aufgabenbögen waren individualisiert, um übermäßige Kooperation zu unterbinden (es war die individuelle Kompetenz gefragt, zur Kollaboration und Kooperation gibt es andere Assessment-Formate, siehe z. B. Abschnitt 5.9). Die Lösungen wurden von den Studierenden handschriftlich geschrieben, am Ende abfotografiert und dann im Moodle hochgeladen. Die ganze Bewertung, Korrektur, Einsichtnahme und Archivierung fanden dann online statt. Zentrales Ergebnis dabei: Der Notenschnitt ändert
sich kaum, wenn man bei ähnlichen Aufgaben und abgeprüften Kompetenzen bleibt und nur die Durchführungsform ändert. Außerdem zeigt sich, dass die Studierenden (leider) den ihnen optional zur Verfügung stehenden Computer nicht unbedingt als „sehr mächtigen Taschenrechner“ mit Simulations- und Rechenwerkzeugen wie MATLAB, Octave oder LTspice, sondern „nur“ zur schnellen Suche im Skript, im Buch oder in Übungsmitschriften nutzen.
Eine weitere Frage bei nahezu allen alternativen und offenen Prüfungsformaten ist neben dem studentischen Austausch, Plagiaten und Contract Cheating mittlerweile auch die Nutzung von KI-Werkzeugen wie ChatGPT oder Gemini. Stand 2024 kann fast jede*r Student*in per KI-Webdienst eine brauchbare Lösung von Klausuren erzeugen, die perspektivisch auch immer besser wird. Verstanden haben muss man die Lösung am Ende trotzdem nicht. Die Frage bleibt, wie man Verständnis ohne Texterzeugung testen kann, was bisher einigermaßen gleichgesetzt wurde (bzw. in der Form, dass Texterzeugung als Proxy für Verständnis genutzt wurde). Mehr mündliche Prüfungen oder Projekte, die auf Handlungskompetenz zur Lösung von fachspezifischen Aufgabenstellungen setzen, wären eine Lösung. Dabei fällt mir stets das Zitat einer Lehrperson in einer Online-Diskussionsrunde zur studentischen KI-Nutzung ein: „Ich möchte ja gar nicht, dass die Studierenden einen Text oder eine Problemlösung aufschreiben. Ich möchte, dass sie das Thema verstanden und durchdrungen haben.“ Hier besteht in der nächsten Jahren sicher noch viel Handlungsbedarf, nicht nur „google-feste“ sondern auch „KI-feste“ Prüfungsformate oder entsprechende Bewertungsschemata zu entwickeln.