Planen: Objekte

Bevor es im Thema weitergeht, lohnt es sich, kurz innezuhalten, um zu klären, welcher Kompetenzerwerb in einem Science-Comic-Projekt eigentlich zu erwarten ist. Der Schlüsselbegriff lautet: Visual Literacy. Wie alle Kompetenzen, ist diese ein Dreiklang aus Wissen, Können und Wollen. In erster Linie sind es „Fähigkeiten, welche für eine zielgerichtete Nutzung und den produktiven Umgang mit Visualisierungen benötigt werden“ (Wafi & Wirtz 2016, 3). Dementsprechend kennen und reflektieren kompetente Menschen visuelle Grundbausteine und Konventionen, können Informationen grafisch umwandeln, um Informationen gezielt zu vermitteln, und engagieren sich für sinnstiftende visuelle Kommunikation in Arbeits- und Bildungsprozessen. Außerdem werden Kenntnisse und Fertigkeiten in den Kompetenzbereichen Sachwissen, Erkenntnisgewinnung (u. a. Modelle), Kommunikation und Bewertung aufgebaut und ausdifferenziert. Vermutlich werden Sie zustimmen, dass Sie von Studierenden nicht verlangen können, dass diese sich Grafikdesign on top aneignen. Die Erfahrung zeigt, dass Grundkenntnisse völlig ausreichen. Eine Einführung in das Thema anhand der Meta-Comics von McCloud (2001, 2007), kombiniert mit Rosinenpicken in Standardwerken (Heber 2018, Heimann & Schütz 2018), zu Farben, Formen und grafischen Elementen, wirkt auf Studierende motivierend. Soll ein Science Comic dem Experimentieren gewidmet werden, ist zudem die Beschäftigung mit Gestaltgesetzen hilfreich (Bühler, Schlaich & Sinner 2017). Generell stellt sich die Frage, wie Sachinhalte bestmöglich in die Comicstruktur zu integrieren sind. Hierauf liefern Ihnen die nachfolgenden Abschnitte Antworten.

Strategie: Wissenschaft aus der Perspektive des erzählenden Ichs

Im Manga Reaktor 1F (Tatsuta 2016) berichtet der Zeichner Kazuto Tatsuta aus der Ich-Perspektive über Aufräumarbeiten in der Kraftwerkruine Fukushima. Er nimmt die Leser*innen mit auf seine Arbeitsstelle, führt über das Gelände, informiert über den Strahlenschutz und stellt alle Arbeitsschritte allgemeinverständlich vor. Die Vorteile dieser Art der Integration von Sachwissen in Comics liegen auf der Hand: starkes Storytelling, hohe Authentizität. Ein Nachteil ergibt sich für die Darstellung komplexer Systeme. Denn dafür benötigt der Ich-Erzähler Organigramme, Infografiken und Karten (Tatsuta 2016, 44–45, 128–129), die den Leserhythmus enorm beeinflussen.

Strategie: Der Storyline beigesellte wissenschaftliche Illustrationen

Der narrativen Struktur des Science Comics wissenschaftsbezogene Illustrationen in Form von Informationskästen und Infografiken, die nicht in Panels (Einzelbilder) eingebunden sind, beiseitezustellen, hat Vor- und Nachteile (Jüngst 2010, 192ff.). Einerseits können Informationen präzise, unter Verwendung von Hinweispfeilen und Beschriftungen, präsentiert werden. Andererseits ist die Strategie unattraktiv für die Leser*innen, da Informationskästen und Infografiken eine intensive Auseinandersetzung mit den abgebildeten Informationen erfordern, wodurch der Leserhythmus unterbrochen wird.

Strategie: Wissenschaftliche Illustrationen als Abbildungen im Panel

Das Einbinden einer wissenschaftlichen Abbildung in ein Panel ist eine elegante Art, wissenschaftliche Informationen in Science Comics unterzubringen. Anschaulicher formuliert: Eine Comicfigur zeigt eine technische Anlage oder chemische Reaktion auf dem Tablet, am digitalen Whiteboard, an der Kreidetafel, als Hologramm usw. (vgl. Max Axiom, Biskup, Martin & Schulz 2011) oder gestattet den Leser*innen einen Blick über ihre Schulter, während sie Tabellen studiert. Im Vergleich zu Infografiken und Informationsboxen, die Panels beigesellt werden, ist an der Strategie vorteilhaft, dass der Lesefluss nicht stark ausgebremst wird. Zudem, und das ist vielleicht der entscheidende Punkt, entsteht kein Bruch mit dem grafischen Stil des Comics. Von Nachteil ist, dass diese Art der Darstellung viel Raum benötigt. Oft sind deshalb nur die Hände der Figuren, die eine Illustration halten, zu sehen.

Abbildung 5: Wissenschaftliche Illustrationen als Abbildungen im Panel. Ausschnitt aus dem Comic Mit Benedict im Labor (unveröffentlicht, Medeuov & Legscha 2019).

Abbildung 6: Wissenschaftliche Illustrationen als Abbildungen im Panel, aus Spidergirl und die rätselhaften Spinnfäden (unveröffentlicht, Blümler, Fuhlbrügge & Steinbrügge 2024).

Strategie: Handlungen innerhalb wissenschaftlicher Illustrationen

Gelegentlich werden Handlungen in wissenschaftliche Illustrationen hinein verlagert, indem Comicfiguren geschrumpft werden, damit diese Exkursion in den menschlichen Körper, den Mikrokosmos oder die Welt der Atome unternehmen können (Jüngst 2010, 189ff.). Die französische Zeichentrickserie Il était une fois…la vie arbeitet mit diesem Prinzip, ebenso die Comicserie Max Axiom (Biskup, Martin & Schulz 2011). Ein Vorteil betrifft die Motivation: Es muss faszinierend sein, in das Innere des eigenen Körpers oder zum Kern eines Atoms reisen zu können. Die Nachteile sind didaktischer Natur. Zum einen können steuernde Codes, z. B. Pfeile, nicht verwendet werden. Diese würden den realistischen Effekt zunichtemachen. Zum anderen entsteht das Problem der unzulässigen Vermischung von Stoffebene und Symbolebene. So werden etwa bei Max Axiom Moleküle wie mikroskopisch kleine Teile gehandhabt: Max zeigt ein Stück Kupfermetall und daneben, symbolisch, die atomare Struktur des Festkörpers. Das Metall und die Metallatomsymbole werden gleichfarbig dargestellt – was aber nicht der Wahrheit entspricht.

 

Reflexionsübung: Radiation

Während der Planungsphase sollten sich Studierende Eindrücke von den vielfältigen Möglichkeiten, die Comics bieten, verschaffen dürfen. Sie können die Fäden beisammenhalten, wenn Sie einen Schwerpunkt auf die angeführten Strategien legen oder einen geteilten Kern thematisieren. Empfehlenswert sind Themen, die kontrovers diskutiert werden können, wie die Nutzung radioaktiver Stoffe im Kontext von Energiewende, Verteidigung und Therapie.

 

Comic

Literatur

Kurzinfo

Barfuß durch Hiroshima

Nakazawa (2004-2005)

Der Comic mit autobiografischen Elementen handelt vom (Über-)Leben des sechsjährigen Gen Nakaoka nach dem Abwurf der Atombombe Little Boy auf Hiroshima.

Rocks and Minerals. Geology from Caverns to the Cosmos

Hirsch (2020)

Die visuelle Einführung in die Mineralogie bietet einen Exkurs zu radioaktiven Mineralien und zur radioaktiven Datierung anhand der Halbwertszeit.

Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima

Tatsuta (2016)

Tatsuta arbeitet als Aufräumer in der Kraftwerkruine Fukushima Daiichi 1F. Er beschreibt das Gelände und die tägliche Arbeit (u.a. mit einem Szintillationszähler, vgl. S. 133).

Marie Curie and Radioactivity

Colwell Miller, Larson & Heike (2007)

Der Comic führt in die Entdeckungsgeschichte des Radiums – vermittels Aufbereitung der Pechblende – durch die Curies ein und behandelt zudem die Anfänge der Strahlentherapie.

Radioactive Man – Radioactive Repository Volume One

Groening (Hg.) (2012)

Bei einem Atombombentest wird Kane verstrahlt und erhält dadurch übernatürliche Kräfte, wie die Fähigkeit zu fliegen. Mit dem Sidekick Fallout Boy bekämpft er fortan Schurken.

Spirou+Fantasio: Alles wie verhext

Fournier (2004)

Vor der Kulisse eines Nuklearzentrums begegnen Spirou und Fantasio dem Todesboten Anku, der sie mit düsteren Warnungen beunruhigt. Kurz darauf explodiert das AKW.

The Periodic Table of Elements. Understanding the Building Blocks of Everything

Chad (2023)

Es wird u.a. dargelegt, dass Americium das gebräuchlichste radioaktive Element im Haushalt ist – es findet sich in Rauchmeldern. Die Funktionsweise eines AKW wird skizziert. Es wird erklärt, wie „neue“ Elemente geschaffen werden.

Tabelle 1: Auflistung von Comics, die sich der Radioaktivität widmen (Pannar 2011). Das Repertoire umfasst sachliche, fiktive und satirische Exempel.

Komparative Comicanalysen eignen sich, um Wahrheitsgehalte von Darstellungen zu überprüfen und daran den kompetenten Umgang mit Fakten, Fiktionen und auch alternativen Fakten in Medien unterschiedlichster Provenienz zu schulen. Dabei werden Mythen, die sich, wie im Fall der TV-Serie Simpsons, im Bild des dreiäugigen Fischs Blinky widerspiegeln (vgl. Halpern 2008, 42ff.), faktenbasiert ausgehebelt. Ein Tipp für Sie am Rande: Die mit Chemie angereicherte Manga- und Animeserie Doctor Stone (jap. Dokuta Suton) bietet eine ergiebige Quelle für Faktenchecks.