„Leben auf begrenztem Raum“

Was ist das für ein Projekt?

Gemeinsam über Disziplingrenzen hinweg im fächerübergreifenden Austausch Probleme zu erforschen und sich dabei gegenseitig neue Perspektiven zu eröffnen, wird im Kontext drängender und zukunftsrelevanter Themenfelder wie Innovation, Nachhaltigkeit, Klimawandel etc. immer bedeutender. Auch in der Lehre gewinnen interdisziplinäre Konzepte zunehmend an Relevanz, um auf Forschungsaktivitäten in den genannten Bereichen vorzubereiten sowie Methoden, Theorien und Ansätze aus anderen Disziplinen zu vermitteln. Der Arbeitsmarkt für AbsolventInnen ist de facto interdisziplinär, die Zusammenarbeit verschiedenster Fachdisziplinen eher die Regel als die Ausnahme. In diesem Zusammenhang entstand das Lehrforschungsprojekt des DozentInnenteams, das sich im Rahmen des hochschuldidaktischen Qualifizierungsprogramms der RUB kennenlernte. Unter dem Titel „Leben auf ‚begrenztem‘ Raum“ (LabR) gingen Lehrende und Studierende aus den Natur- und Geisteswissenschaften in zwei Semestern gemeinsam der Frage nach, inwiefern Wechselwirkungen zwischen den sozialen und naturräumlichen Bedingungen der Insel Helgoland bestehen. Als interdisziplinäres Lehrforschungsprojekt wurde LabR bislang einmal durchgeführt (SoSe 2016 bis WiSe 2016/17). Der Kurs richtete sich an Bachelor-Studierende aller Fakultäten und wurde im Rahmen des Optionalbereichs der RUB angeboten.  

 

Untersuchungsgebiet und Teamzusammensetzung

Die Insel Helgoland in der Deutschen Bucht stellt als einzige Felseninsel in der Nordsee einen „Biodiversitäts-Hotspot“ dar: Sie beherbergt eine einzigartige Tier- und Pflanzenwelt und ist daher regelmäßig Ziel universitärer Exkursionen. Diese sind meist stark fachdisziplinär ausgerichtet und betrachten die Insel daher lediglich aus einer Perspektive. Gerade in stark natürlich begrenzten Lebensräumen wie Inseln bedingen und beeinflussen sich jedoch naturwissenschaftliche Rahmenbedingungen, historische Entwicklungen und soziale Gegebenheiten in hohem Maße gegenseitig. Der ganzheitliche, interdisziplinäre Ansatz von LabR sollte diese „Lücke“ schließen und im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes die Bedeutung Helgolands aus verschiedenen Fachkulturen heraus verständlich machen (s. Abb. 1). Ein weiterer wichtiger Grund für die Wahl des Untersuchungsgebietes war, dass der Biologe des Teams, Holger Bäcker, im Rahmen der Zoologischen Lehre der RUB seit 2006 Exkursionen zur Insel Helgoland durchführte. Rückblickend ist es fast unabdingbar, dass sich mindestens ein/e DozentIn des Teams im Zielgebiet gut auskennt, um den ohnehin beträchtlichen organisatorischen Aufwand für einen derartigen Ansatz im Rahmen zu halten. Neben der Biologie waren die Sozialwissenschaften (durch Dr. Patricia Schütte und Moritz Müller) sowie die Geowissenschaften (durch Dr. Andre Banning und Tobias Vaitl) im Lehrforschungsprojekt beteiligt. Im Prinzip sind für ähnliche Projekte beliebige weitere Fächerkombinationen denkbar, solange sinnvolle Schnittmengen angemessene Fragestellungen für einen Lehrforschungsansatz ermöglichen.

 

Zielsetzungen und Struktur

Die Studierenden sollten unterschiedliche Kompetenzen entwickeln. So war es Ziel des Lehrprojektes, Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Arbeit in (heterogenen) Teams sowie zum sinnvollen Projekt- und Zeitmanagement auszubauen. Dafür arbeiteten die teilnehmenden Studierenden in fachlich heterogen zusammengesetzten Projektteams an interdisziplinären Fragestellungen (z.B. zu den Themen Energie und Wasser, Identitätsbildung etc.) zusammen, um so von- bzw. miteinander zu lernen. Durch das Design des Lehrforschungsprojektes (eine Kombination aus Präsenzlehre, Exkursion, E-Learning und Workshops, s. Abb. 2) wurde ihnen ein hohes Maß an eigenständiger Organisation und fachübergreifendem Verständnis abverlangt. Die Geländephase bot die Gelegenheit zu ergebnisoffener interdisziplinärer Arbeit und zu forschendem Lernen. Die TeilnehmerInnen haben durch die selbständige Entwicklung der anzuwendenden Methoden in den Arbeitsgruppen die Lehrveranstaltungen, Forschungsansätze und Auswertungen sehr aktiv mitgestaltet. Diese Form der Zusammenarbeit hat die Studierenden dabei unterstützt, den „Blick über den (fachlichen) Tellerrand“ hinaus zu wagen und „fremdartige“ Denkansätze oder Methoden der anderen Fächer in die eigene Arbeit zu integrieren.

Zum Inhalt: Zunächst wurde eine gemeinsame fachliche Ausgangsbasis für alle teilnehmenden Studierenden in Vorlesungen und Seminaren erarbeitet, die notwendige Grundlage für die weitere fachübergreifende Bearbeitung von Problemstellungen in der Geländephase war. Nachdem die Studierenden bereits im Vorfeld der Exkursion die verschiedenen Ansätze und Methoden der Bio-, Geo- und Sozialwissenschaften in der Theorie gehört hatten, lernten sie diese vor Ort auf Helgoland in der Praxis. Weitere Ziele waren Vorgehensdokumentation und Ergebnissicherung, aber auch die Prüfung auf Übertragbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse – sind die getätigten Beobachtungen auch in anderen „begrenzten Räumen“ erwartbar? Alle bearbeiteten Teamprojekte wurden abschließend zur Beantwortung der o.g. Fragestellung synthetisiert, und auf einem öffentlichen Abschlussworkshop sowie in Form von Endberichten präsentiert.

 

Aufgaben der Studierenden und der Lehrenden

Das Lehrprojekt LabR orientiert sich an den fünf Projektphasen, wie sie auch in der freien Wirtschaft bei Projektarbeit Verwendung finden (Initialisierung, Definition, Planung, Durchführung, Abschluss). Innerhalb der Phasen erfüllen Lehrende  unterschiedliche Rollen, um den Studierenden einen Freiraum zu schaffen, in dem sie agieren können: so waren wir als Lehrende z.B. in der Projektdefinition ProjektleiterInnen, aber auch KundInnen, die mit einer Vision für das Projekt an die Studierenden herantreten. In der Planungsphase waren wir ProjektleiterInnen (Moderation der Abläufe, Kommunikation mit den externen Mitarbeitern auf der Insel), aber auch Lehrende, die hier einen zusätzlichen theoretischen Impuls gegeben haben. Die Studierenden konnten frei ihr Gruppenthema wählen und je nach Interessensschwerpunkt interdisziplinäre Teams erstellen. Während der Projektdurchführung haben die Studierenden nahezu eigenständig im geschaffenen „Freiraum“ in ihren Teams gearbeitet und konnten so ihre Projektaufgaben erfüllen.

Die Aufgaben der Studierenden reichten von Literaturrecherche in Helgoländer Bibliotheken über qualitative Interviews mit 20 HelgoländerInnen, einem Fragebogen, mit dem etwa 100 Touristen und BewohnerInnen befragt wurden, bis zu Dokumentationen von Flora und Fauna Helgolands und geoelektrischen Messungen, Laborarbeiten und Kartierungen auf der Insel. Während der Projektdurchführung trat das DozentInnenteam eher in vermittelnden/ moderierenden/ problemlösenden Rollen auf – theoretische Inputs fanden während dieser Phase kaum noch statt. In der Phase des Projektabschlusses kamen sie wieder in der Rolle des/der Lehrenden an: Hier fand gemeinsam mit den Studierenden eine Reflexionsphase statt (Was lief gut, was war optimierungsbedürftig?) Zum Abschluss des Projektes präsentierten die Studierenden ihre Ergebnisse in einem Workshop öffentlich, wobei Aufbau und Gestaltung frei gewählt werden konnten. Die Zusammenfassung aller erzielten Ergebnisse in einem Abschlussbericht rundete das Projekt ab.

Mit den Präsenzveranstaltungen bereiteten wir als Lehrende die Studierenden auf ihre Forschungsarbeit vor, lehrten Theorien und Methoden für den Transfer in die Forschungspraxis und flankierten das Zusammenwachsen der Teams. Die Blended-Learning-Elemente ergänzten das Konzept in den freieren Phasen der Projektarbeit (Erstellung eines Projektstrukturplans, Planung der Praxisphase, Vorbereitung von Präsentationen etc.) und eröffneten den Studierenden räumliche Flexibilität, wobei ihnen trotzdem Möglichkeiten des Austauschs mit den anderen Kursteilnehmenden und den Dozierenden blieben. In der „Feldphase“ auf Exkursion wurden die Studierenden von den Dozierenden begleitet und bei Bedarf angeleitet. Den abschließenden Workshop mit Ergebnispräsentation für ein projektexternes Publikum gestalteten die Teilnehmenden selbstständig, während das DozentInnenteam moderierte.

Im Konzept waren verschiedene Prüfungsformate vorgesehen, die sich über die zwei Semester verteilten und die Fortschritte der Studierenden abbildeten. Im ersten Semester präsentierten sie ihre gewählten theoretischen Ansätze und Methoden im Kontext ihrer Fragestellung sowie ihre Projektplanung (in drei Sitzungen, die mit etwa ein-monatigem Abstand aufeinander folgten) in bewerteten Vorträgen. Zwischen den Semestern und nach der Exkursion schrieben die Studierenden (ebenfalls bewertete) Blogbeiträge, um Entwicklungen in ihrer Arbeit sowie erste Ergebnisse zu dokumentieren. Den Abschluss bildeten eine bewertete Ergebnispräsentation und die Workshopgestaltung für ein öffentliches Publikum sowie ein Projektbericht.

 

Fazit

LabR war von Beginn an als Projekt angelegt, bei dem wir versucht haben, viele KooperationspartnerInnen („Stakeholder“) auf Helgoland zu gewinnen und diese mit in den Projektablauf einzubinden. So knüpften wir bereits in der Phase der Projektinitialisierung Kontakte zur Helgoländer Verwaltung, zum Bürgermeister, zum Wasserwerk und zur Energieversorgung der Insel, zur Biologischen Anstalt Helgoland, zum neu entstehenden Offshore-Windpark und zu Umwelt- und Naturschutzinitiativen, um den Studierenden ein breites Feld an Forschungsmöglichkeiten, Kontakten und Zugängen zu bieten, in dem sie sich frei bewegen und forschen konnten. Die Studierenden knüpften vor Ort noch selbständig Kontakte und gewannen so weitere Stakeholder: So entstanden weitere Zusammenarbeiten z.B. mit dem Helgoländer Trachtenverein oder dem Marinereservistenverband. Durch die Kontakte ergaben sich gar Praktikumsanfragen von einzelnen Stakeholdern an die Studierenden. Die von uns ausgewählten Kontakte waren so angelegt, dass z.B. für die Interviews ein breites Spektrum an Meinungen zu den unterschiedlichen Forschungsfeldern eingeholt werden konnte. So kamen z.B. BefürworterInnen und GegnerInnen des neu entstehenden Offshore-Windparks zu Wort. Die Studierenden sollten im Lehrprojekt erkennen, welche Positionen und Konflikte im Spannungsfeld von Ökonomie, Ökologie und sozialer Ordnung auftreten können und zu berücksichtigen sind – und welche Rolle die Forschung als Vermittlerin zwischen Extrempositionen einnimmt. Es war eines der Ziele von LabR, das interdisziplinäre Verständnis für die anderen Fachbereiche zu entwickeln. Dies versuchten wir durch die interdisziplinär angelegte Teamstruktur, durch übergeordnete Forschungsfragen (Geschichte/ Versorgung/ Naturschutz/ Identität), die aus allen Fachperspektiven heraus beleuchtet werden können, durch die zahlreichen KooperationspartnerInnen vor Ort und durch die Projektstruktur, um so auf „begrenztem Raum“ einen Freiraum der Kreativität für die Studierenden zu schaffen, in dem sie zu brauchbaren Ergebnissen gelangen konnten.

Aus DozentInnensicht sind wir mit dem abgeschlossenen Projekt hoch zufrieden. Das von uns selbst zunächst als stark experimentell wahrgenommene Konzept hat die „klassischen“ Lehrformate (Vorlesung, Seminar, Exkursion) in idealer Weise miteinander kombiniert. In Verbindung mit einem sehr hohen Maß an Eigenverantwortung und intrinsischer Motivation, die die Studierenden zum Gelingen der Forschungsarbeiten aufbringen mussten (und aufgebracht haben!), entstand eine effiziente und anregende Lehr-Lern-Atmosphäre in der Gruppe. Sowohl der weitgehend problemfreie Verlauf des Projektes als auch Qualität und Quantität der erhobenen Daten übertrafen unsere Erwartungen bei weitem. Die formulierten Ziele wurden erreicht. Die Studierenden erarbeiten aktuell in Eigenregie eine Publikation für die von inSTUDIES geförderte wissenschaftliche open access Zeitschrift GeoLoge. Entsprechend betrachten wir LabR – ein im RUB-Rektoratsprogramm „InterLecture“ einmalig gefördertes Lehrforschungsprojekt – als großen Erfolg. Bereits mehrfach konnten wir bei nationalen und internationalen hochschuldidaktischen Konferenzen von unserem Konzept und den Ergebnissen berichten. Nach diesen Erfahrungen sieht das DozentInnenteam interdisziplinäre Lehrforschungsprojekte mehr denn je als eine der tragenden zukünftigen Säulen der universitären Ausbildung an, und wird nach Möglichkeit weiter in diese Richtung arbeiten. Der große Aufwand – von der ersten Planung bis zum Abschlussworkshop sind über zwei Jahre ins Land gegangen – hat sich ausgezahlt.

 

Autor*innen

  • PD Dr. Andre Banning, Lehrstuhl Angewandte Geologie, Institut für Geologie, Mineralogie und Geophysik der RUB, aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Hydrogeologie, anorganische Hydrogeochemie, Mensch-Umwelt-Interaktionen, andrebanning
  • Dr. Patricia Schütte, Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenschutz und Objektsicherheit der Bergischen Uni Wuppertal (ehem. Mitarbeiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum), aktueller Arbeitsschwerpunkt: Sicherheit auf Großveranstaltungen, Organisationen der zivilen Sicherheit, interorganisationale Zusammenarbeit in sicherheitsrelevanten Szenarien und Settings, schuette

Stand: