Mythos „Lerntypen“ und „Lernstile“
Der visuelle Typ lernt anhand visueller Informationen. Der auditive Typ braucht auditive Impulse. Und wenn Sie zum haptischen Lernstil neigen, dann lernen Sie, wenn Sie etwas in die Hand nehmen können.
Haben Sie davon schon gelesen und finden, dass das logisch klingt? Dann sind Sie nicht allein. Der Mythos ist weit verbreitet, und ja, er ist genau das: ein Mythos.
Daniel Willingham von der University of Virginia weist darauf hin, dass das menschliche Gehirn nicht so funktioniert, dass eine Art der Aufbereitung von Informationen für einen Menschen besser geeignet ist als eine andere. Es gibt also keine Lerntypen. Er führt ein einfaches Beispiel an: Nehmen wir an, dass Sie jemand fragt, welche Form die Ohren eines Schäferhundes haben. Sie werden eine bildliche Vorstellung davon haben – egal, ob Sie sich im Mythos der Lerntypen als visuell eingestuft hätten oder nicht. Die Gaußsche Normalverteilung gilt auch für die visuelle Vorstellungskraft, d.h. manche Menschen haben eine detailliertere bildliche Vorstellung von einem Schäferhund als andere. Das trifft auf z.B. auditive Vorstellungen oder Bewegungsabläufe genauso zu. Sie führen sich Stimmen auditiv ins Gedächtnis, auch wenn Sie eine detaillierte bildliche Vorstellungskraft haben.
Wenn es um Lernstile geht, wird oft angeführt, dass manche Lernenden z.B. Worte besser auswendig lernen, wenn sie sie schriftlich sehen, und andere besser, wenn sie sie hören. Doch was passiert im Gehirn tatsächlich? Gelernt wird die Bedeutung des Wortes, ganz unabhängig von der Art der Aufbereitung. Studien haben gezeigt, dass es in der Erinnerungsleistung keinen Unterschied macht, wie ein Wort präsentiert wurde, sondern ob die Lernenden eine Bedeutung damit verbinden konnten. „Meaning-based learning“ nennt es Willingham. Er illustriert u.a. in Youtube-Videos einfache Beispiele: Die Umrisse eines Landes auf einer Weltkarte merken Sie sich nicht auditiv, sondern visuell, während Sie einen fremdsprachigen Ausdruck auditiv lernen und nicht durch einen visuellen Eindruck. Mittlerweile wurde dazu viel geforscht, und klar ist: Es gibt auch keine Lernstile. Myriam Schlag (2020) fasst es so zusammen: „Die Theorie zu Lernstilen und -typen setzt Wahrnehmung bzw. verschiedene Sinneskanäle mit Lernen gleich. Deklaratives Wissen (Wissen über Fakten und Begriffe) gelangt jedoch nicht von den Sinneskanälen direkt in das Langzeitgedächtnis. Diese Annahme ist experimentalpsychologisch und neurowissenschaftlich nicht belegt. Das heißt, dass die Gedächtnisbildung nicht vom Sinneskanal abhängig ist.“
Wenn Sie dem Mythos bisher erlegen waren, sind Sie in guter Gesellschaft. Denn die Theorie klingt erst einmal so logisch, dass einer früheren Umfrage der University of Virginia zufolge bis zu 90 Prozent der Studierenden und Lernenden daran glauben. Schließlich stimmt eine der Grundlagen, nämlich dass individuell bestimmte Stärken z.B. im visuellen Denkvermögen vorliegen. Wer an den Mythos glaubt, ist dazu geneigt, Situationen z.B. im eigenen Lehr- oder Lernverhalten unter dieser Perspektive zu betrachten. Dabei ist die Vorannahme, die hinter „Lerntyp“ und „Lernstil“ steckt falsch, denn sie missachtet, dass es beim Lernen eigentlich um das „meaning-based learning“ geht.
Warum hält sich der Mythos so hartnäckig? Es besteht ein kommerzielles Interesse daran, denn es werden Bücher, Arbeitsmaterial und Tests dazu zum Kauf angeboten. Darüber hinaus klingen die Grundannahmen wie ausgeführt logisch, so dass Lehrende und Lernende in die Falle der selbsterfüllenden Prophezeiung tappen. Insbesondere die vorhandenen Tests ermöglichen es Lernenden, sich individuell gesehen zu fühlen. Und die Zuordnung zu einem Typ oder Stil macht es Lernenden einfach, unter dem Motto „ich bin halt so“ die Schuld für nicht gelingendes Lernen auf andere Personen oder Systeme abzuwälzen.
Was bedeuten diese Erkenntnisse für Ihre Lehre?
Manchmal mag es sein, dass Sie ein visuelles Beispiel für einen abstrakten Lerngegenstand nennen, und merken, dass die Studierenden dann (endlich) verstehen worum es geht. Dann haben Sie wahrscheinlich eine besonders geeignete Analogie gefunden. Gratulation, denn das ist großartig, wenn Sie Ihren Studierenden so auf die Sprünge helfen konnten. Möglicherweise finden Sie auch für andere Inhalte solche guten Analogien – bei denen Sie jedes Mal neu entscheiden können, welche Form der Darstellung passend ist. Und wenn Ihnen die Studierenden etwas von den Mythen erzählen, können Sie dies zum Anlass nehmen, mit den Lernenden gemeinsam auf die Grundlagen dieser Annahme und auf die Studienlage zu schauen und so aufzuzeigen, dass es ein verbreiteter Irrglaube ist.