Lerngelegenheiten in Virtual Exchange-Settings

Durch die Verbindung von Online-Lernen mit kollaborativem Lernen und interkulturellem Lernen entsteht eine komplexe Lernsituation, die sowohl für Studierende als auch für Lehrende im ersten Moment eine große Herausforderung darstellen kann. Aus diesem Grund soll zunächst ein Blick auf die Motivation von Lehrenden gelegt werden, sich in Virtual Exchange-Aktivitäten zu engagieren – eine Perspektive, die verdeutlicht, welche Potentiale für das Lernen der Studierenden in diesem Ansatz aufgetan werden können.

Eine Studie, die im Rahmen eines groß angelegten Forschungsprojekts im Rahmen des EU-finanzierten Erasmus+ KA3-Projekts EVOLVE (Evidence Validated Online Learning through Virtual Exchange) durchgeführt wurde, gibt Einblicke in die Beweggründe und Motivation von Hochschullehrenden, sich trotz zusätzlicher Arbeitsbelastung an Virtual Exchange-Projekten zu beteiligen. Die Ergebnisse identifizieren Virtual Exchange als „flexible pädagogische Praxis, die verschiedensten Lernzielen gerecht werden kann“ (Nissen & Kurek 2020, S. 18, Übersetzung AT) und veranschaulichen eine Vielzahl von Motivationen (Nissen & Kurek 2020, S. 18):

  • die überfachlichen Kompetenzen der Studierenden fördern
  • eine studierendenzentrierte Herangehensweise umsetzen
  • Vorteile für die fachliche Entwicklung der Studierenden durch Perspektivenvielfalt
  • Vorteile für ihre eigene berufliche Entwicklung, z.B. die Vertiefung ihrer digitalen Lehrkompetenzen
  • Verbesserung ihres eigenen interkulturellen Lernens
  • Beitrag zur Internationalisierung ihres Lehrplans
  • Experimentieren mit dem neuen Unterrichtsformat und neue Erfahrungen

Diese verschiedenen Motive greifen eng ineinander mit übergeordneten Lernzielen, die Lehrende im Virtual Exchange verfolgen (siehe Praxisbeispiele). Auch hier werden vielfältige Bereiche sichtbar (Nissen & Kurek 2020, S. 18-20):

  • Förderung des Sprachenlernens innerhalb des Fachs mit fachspezifischem Wortschatz
  • Umgang mit digitalen Tools zur Unterstützung der Kommunikation und Zusammenarbeit einüben
  • Erwerb interkultureller Kompetenz durch interkulturelle Interaktionen
  • Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden
  • Konfrontation mit realen interkulturellen Herausforderungen und Problemen ihres spezifischen Berufsfeldes
  • Verknüpfung von fachlichen mit überfachlichen Kompetenzen

Konkrete Lernziele können in einem Virtual Exchange auf verschiedenen Taxonomiestufen formuliert werden und sprechen verschiedene Kompetenzen an. Als zentraler Mehrwert wird für Virtual Exchange-Projekte in der Lehre die Förderung von solchen Kompetenzen beschrieben, die notwendig sind, um in „Globalen Virtuellen Teams […] zu arbeiten und […] Erfahrungen aus erster Hand in der internationalen Online-Zusammenarbeit in professionellen Kontexten zu vermitteln“ (O’Dowd 2018, S.12, Übersetzung AT). Darüber hinaus kann eine Reihe verschiedener Fähigkeiten angesprochen werden, z.B. interkulturelle Kompetenz und kritisches Denken, kollaborative Problemlösung oder Teamarbeit sowie digitale Kommunikation und Interaktion (O’Dowd 2018), die sich auf Global Citizenship Education beziehen (UNESCO 2023). Das ist ein Konzept, das auch mit nachhaltigen und wirkungsorientierten Lehransätzen verbunden ist.

Aufgaben

Da es sich bei Virtual Exchange um studierendenzentrierte Aktivitäten handelt, bei denen Interaktion und Zusammenarbeit im Mittelpunkt stehen, ist es wichtig, dass Sie eine sinnvolle Aufgabe stellen, die gut strukturiert ist und die sozialen Prozesse berücksichtigt, die in Gruppen ablaufen und erfolgreiches Lernen unterstützen. In Anlehnung an Tuckmans Modell der Kleingruppenentwicklung (Tuckman 1965), sollten die Aufgaben zur Unterstützung der Gruppenprozesse einer Sequenz folgen, um den Studierenden pädagogische Unterstützung für die Entwicklung des Gruppenprozesses zu geben. Die Sequenz der Aufgaben beinhaltet drei Aufgabentypen, die im Folgenden beschrieben werden (siehe auch Praxisbeispiel ‚Education for sustainable development‘).

Get to know-Aufgaben

Das bedeutet, dass die von Ihnen gewählte Aktivität mit einer Kennenlernaufgabe beginnen sollte, die die Studierenden dazu ermutigt, Informationen über sich selbst, das Land und die Stadt, in der sie leben, und Informationen, die mit dem Kursthema zusammenhängen, aber ihre persönlichen Erfahrungen betreffen, mitzuteilen. Sie sollte die Studierenden mit der Aufgabe ermutigen, sich gegenseitig Fragen zu stellen und sich im Anschluss über das auszutauschen, was sie über ihre internationalen Kommiliton*innen erfahren haben. Diese erste Aufgabe kann eine Gelegenheit sein, eine neue Kultur zu erforschen und zu entdecken, ohne zu viel Verhandlung oder Reflexion zu verlangen, da die Teilnehmenden eher Informationen austauschen als sie zu diskutieren (O’Dowd & Waire 2009, S. 175). Für diesen Aufgabentyp finden Sie klassischerweise Lernziele auf den niedrigeren Taxonomiestufen.

Vergleich- und Analyse-Aufgaben

Der zweite Aufgabentyp beinhaltet den Vergleich und die Analyse verschiedener Informationen oder kultureller Produkte aus den beiden beteiligten Ländern. Filme, Werbung, Zeitungsartikel können im Mittelpunkt der Vergleichsaufgabe stehen. Mit diesem Aufgabentyp stimulieren Sie die Lernenden, über die einfache Zusammenstellung von Informationen hinauszugehen, und Bedeutungen zu erklären sowie zu diskutieren, wo (fachliche oder kulturelle) Ähnlichkeiten und Unterschiede auftreten (O’Dowd & Waire 2009, S. 175, 178). Damit können Sie Lernziele aus dem mittleren Taxonomiebereich verfolgen.

Kollaborative Aufgaben

Der dritte Aufgabentyp ist der anspruchsvollste und erfordert eine gute Kommunikation und Arbeitsbeziehung zwischen den Beteiligten. Die beiden vorangegangenen Aufgaben sind daher eine gute Vorbereitung. Mit einer kollaborativen Aufgabe fordern Sie die Lernenden auf, ein gemeinsames Produkt zu erstellen, das die Diskussion kultureller Merkmale und eine Verhandlung über die Bedeutung beinhaltet, um konsensuale Absprachen über ihr Produkt zu treffen. Dabei kann es sich um einen Bericht, eine Präsentation, ein Objekt, einen Leitfaden oder jede andere Form handeln, die für die beteiligten Disziplinen geeignet ist (O’Dowd & Waire 2009, S. 178). Diese Aufgaben stimulieren Lernziele auf hohen Taxonomiestufen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Anordnung der genannten Aufgaben in einer Sequenz das Erreichen einer Vielzahl von Lernzielen ermöglicht, indem sie die Studierenden interkultureller Kommunikation aussetzt und sie nach und nach in Diskussionen und später Aushandlungsprozesse einbindet. Sie können diese Sequenzierung dazu nutzen, die Komplexität der Interaktionen innerhalb der studentischen Kleingruppen langsam zu steigern und damit das Erreichen von Lernzielen auf allen Taxonomiestufen erfolgreich zu unterstützen (O’Dowd & Waire 2009, S. 178).

Herausforderungen

Studien und Erfahrungsberichte aus dem Bereich Virtual Exchange zeigen, dass Lehrende aus verschiedenen Fachbereichen und Ländern häufig mit denselben Herausforderungen konfrontiert sind, die sich insbesondere in der Konzeptionsphase und ersten Durchführung ergeben. Nissen & Kurek (2020, S. 35; auch O’Dowd 2018) führen auf

  • Herausforderungen bei der Bewertung
  • Zeitliche Herausforderungen
  • Organisatorische Herausforderungen
  • Technologische Herausforderungen
  • Herausforderungen bei der Kursgestaltung oder Aufgabenabfolge
  • Herausforderungen bei der Abstimmung von Präsenz- mit Online-Sitzungen
  • Bedarf an institutioneller Unterstützung
  • Herausforderungen bei der Zusammenarbeit mit Studierenden

Diese Herausforderungen sind nicht alle spezifisch für Virtual Exchange-Aktivitäten, stellen sich aber im kollaborativen Team-Teaching-Format im Besonderen (siehe auch Praxisbeispiele). Sie als Lehr-Partner*innen benötigen Zeit, um darüber zu diskutieren und Lösungen auszuhandeln. Es muss keine vollständige Angleichung erfolgen – es könnte sein, dass eine Gruppe von Studierenden mehr ECTS erhält als die andere oder eine andere Prüfung ablegt, je nach den jeweiligen lokalen Anforderungen ihres Studiengangs.

Dementsprechend berichten Lehrende aus der Praxis, dass sie bei der ersten Planung und Durchführung ihrer Aktivitäten zusätzliche Ressourcen für die Kommunikation benötigen. Vor allem Zeit für innovative Lehrkonzeptionen, aber auch institutionelle Unterstützung, Anreize für Lehrende und verfügbare Technologie sind entscheidend für die Entwicklung und Verbreitung von Virtual Exchange in Bildungseinrichtungen. Auch in post-pandemischen Zeiten sind diese Ressourcen weiterhin notwendig, da Virtual Exchange eine innovative und sinnvolle Möglichkeit darstellt, interkulturelles Lernen für alle Studierenden zugänglich zu machen (Stevens Initiative 2023, S. 20). Dies ist auch eine Schlussfolgerung des Erasmus+ Virtual Exchange Projekts:

“Educator-led virtual exchange projects require considerable time from educators who have to follow training, co-design their international curriculum with colleagues and then engage in the sometimes messiness and unpredictability of virtual exchange.” (Helm et al. 2020, S. 103)

Wenn Sie als RUB-Angehörige*r ein Virtual Exchange Projekt planen möchten, erkundigen Sie sich daher im Vorhinein beim Zentrum für Wissenschaftsdidaktik, welche Art der Unterstützung dort möglich ist, und wie Sie in Förderprogrammen berücksichtig werden können, die eine zusätzliche Ressource, z.B. im Programm unic@rub eine studentische Hilfskraft, für Sie bereitstellen.