Szenarien für lernförderliche Gruppenarbeit
Im Folgenden finden Sie eine Auswahl konkreter Kooperationsszenarien, die Sie in Ihrer Lehre einsetzen können. Eine praxisnahe Übersicht zu weiteren Kooperationsszenarien findet sich bei Renkl und Beisiegel (2003)
Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass Sie und Ihre Studierenden Kooperationsszenarien zunächst einüben müssen. Anderenfalls ist es wahrscheinlich, dass Studierende während der Gruppenarbeitsphase einen Großteil ihrer kognitiven Kapazität auf die Umsetzung des Lernszenarios verwenden müssen, sodass ihnen lediglich limitierte Ressourcen für lernförderliche Prozesse zur Verfügung stehen. Achten Sie daher darauf, kooperative Lernszenarien zuerst an kleineren Problemen oder Randthemen einzuüben, bevor Sie sie für den zentralen Lernstoff einsetzen.
Möglichkeiten für kurze Gruppenarbeitsphasen
Think-Pair-Share
Dieses Szenario regt die Aktivierung von Vorwissen an und ermöglicht den Austausch von Ideen. Teilen Sie hierfür Ihre Studierende in Paare ein. Zunächst denken die Lernenden allein über eine Fragestellung oder ein Problem nach (Think). Anschließend tauschen sie ihre Gedanken mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin aus (Pair) und diskutieren ihre Ideen. Zuletzt werden die Ergebnisse im Plenum präsentiert und diskutiert (Share). (siehe z.B., Sembert et al., 2021)
Abbildung 1. Ablauf von Think-Pair-Share. Eigene Darstellung.
Brain-Writing Pool
Brain-Writing Pool ist eine Variante des kooperativen Brainstormings, bei dem alle Gruppenmitglieder schriftlich Ideen zu einem Thema oder einer Fragestellung sammeln, ohne während der Ideenfindung mündlich zu interagieren. Dies ist zentral, um Produktionsblockierung zu umgehen. Beim Brainstorming geht es dabei in erster Linie um Quantität; die Frage nach Qualität und Machbarkeit wird erst später gestellt, da die Fantasie nicht durch Fragen nach der Realisierbarkeit eingeengt werden soll und somit unkonventionelle Lösungen verhindert. Damit dies gewährleistet werden kann, sollten Sie die folgenden Grundsätze beim Brainstorming stets beachten:
- Je mehr Ideen, desto besser.
- Je ungewöhnlicher die Ideen, desto besser.
- Verbessere und ergänze bereits genannte Ideen.
- Enthalte Dich jeglicher Kritik.
Ausgangspunkt für dieses Szenario ist eine Frage oder ein Problem, zu der Antworten oder Lösungsansätze gesammelt werden sollen. (1) Zuerst notiert jedes Gruppenmitglied Ideen auf einzelnen Notizzetteln (z.B. einer Haftnotiz) und legt diese zur Frage/Problemstellung. So entsteht ein „Pool“ an Ideen. (2) Sobald einer Person keine neuen Ideen kommen, sieht sie sich die von den anderen Gruppenmitgliedern eingebrachten Ideen an, um weitere Anregungen zu erhalten und neue Ideen notieren zu können. Diese neuen Ideen werden anschließend dem Pool hinzugefügt. Für diese Runde reichen in der Regel 5 – 10 min aus. (3) Nach Ablauf der Bearbeitungszeit schauen sich die Gruppenmitglieder alle Notizen an und sortieren sie, etwa nach Ähnlichkeiten. So entstehen Ideencluster. Sobald alle Ideen sortiert sind (und ggf. sich wiederholende Ideen entfernt wurden), werden die vorgeschlagenen Ideen gemeinsam bewertet und ggf. nicht passende ausgeschlossen. (siehe z.B., Stroebe & Nijstad, 2004)
Abbildung 2. Ablauf von Brain-Writing Pool. Eigene Darstellung.
Strukturierte Akademische Kontroverse
Bei der Strukturierten Akademischen Kontroverse arbeiten die Studierenden in Kleingruppen und diskutieren ein kontroverses Thema aus verschiedenen Perspektiven. Im Vordergrund stehen hier das Erklären und Argumentieren. Auf diese Weise erschließen sich die Lernenden ein Thema und beleuchten verschiedene Positionen auf eine Fragestellung.
Für die Umsetzung teilen Sie Ihre Studierenden zuerst in Kleingruppen ein. Jeder Gruppe wird anschließend eine Position oder Perspektive auf das Thema zugeteilt. Typischerweise werden zwei entgegengesetzte Positionen verteilt.
Dieses Kooperationsszenario umfasst die folgenden Schritte: (siehe z.B., Renkl & Beisiegel, 2003)
- Verteilung des Materials: Zu Beginn wird den Studierenden Material zur Verfügung gestellt, dass die verschiedenen Perspektiven auf das kontroverse Thema darstellt. Dieses Material sollte ausgewogen sein und Informationen für beide Seiten der Diskussion enthalten.
- Gruppen analysieren das Material: Die Studierenden erarbeiten sich das Material innerhalb ihrer Gruppe und identifizieren Argumente sowohl für ihre eigene zugewiesene Position als auch für die Gegenseite. Entwicklung der Position und Argumentation: Jede Gruppe entwickelt ihre Position und bereitet eine logische Argumentationsstruktur vor.
- Zur Eröffnung der Diskussion stellt jede Seite ihre Position in Form eines kurzen Eingangsstatements dar (z.B. begrenzt auf 2 min Redezeit). Diskussion. Anschließend nehmen die Gruppen Bezug auf die Statements und argumentieren für ihre eigene Position. Diese Phase kann beispielsweise 15-20min dauern. Optional: Rollentausch: Nachdem beide Seiten ihre Positionen vorgestellt haben, tauschen sie die Rollen. Nun verteidigt jede Gruppe die Position, die sie vorher nicht unterstützt hat.
- Synthese der Positionen im Plenum: Zum Abschluss werden die Argumente beider Seiten zusammengeführt. Ziel ist es, ein gemeinsames Statement zu erarbeiten, das beide Perspektiven in einem Kompromiss oder einer neuen, integrierten Sichtweise vereint.
Abbildung 3. Ablauf einer strukturierten akademischen Kontroversen. Eigene Darstellung.
Möglichkeiten für mittelfristige Gruppenarbeitsphasen
Expert*innenpuzzle
Das Gruppenpuzzle, oder auch Expert*innenpuzzle (engl. jigsaw puzzle, Aronson, 2002) ist ein Klassiker unter den Kooperationsszenarien. Dieses Szenario fördert die Zusammenarbeit, da die Studierenden voneinander abhängig sind, um das gesamte Thema verstehen oder das gemeinsame Problem erfolgreich bearbeiten zu können. Es regt die Studierenden dazu an, Zusammenhänge zu erklären und für ihre Position zu argumentieren. Hierbei ist es notwendig, dass jedes Gruppenmitglied aktiv teilnimmt.
Ein Expert*innenpuzzle umfasst die folgenden Phasen:
1. Aufteilung in Expert*innengruppen & Erarbeitung der Expertise
Der Kurs wird in mehrere Expert*innengruppen aufgeteilt. Jede Expertengruppe erhält ein bestimmtes Teilthema oder einen Aspekt des Gesamtproblems, das es zu bearbeiten gilt. Beispielsweise wird jeder Expert*innengruppe ein Text zugeteilt, der eine spezifische Theorie oder Perspektive darstellt. Jede Expert*innengruppe arbeitet zunächst unabhängig von den anderen Expert*innengruppe an ihrem zugeteilten Themenbereich. Das Ziel besteht darin, Spezialist*in für das eigene Thema zu werden.
Innerhalb der Expert*innengruppe erarbeiten sich die Gruppenmitglieder ihr Material, diskutieren das Thema, entwickeln gemeinsame Erklärungen und Argumente und bereiten sich darauf vor, ihr Thema später den anderen Gruppenmitgliedern zu erklären. Das Ziel ist es, sicherzustellen, dass jedes Gruppenmitglied das Thema gut genug versteht, um es in der nächsten Phase den anderen vermitteln zu können. In dieser Phase werden alle wichtigen Informationen zu einem strukturierten Gesamtbild ihres Teilthemas zusammengefasst.
2. Arbeit in gemischten Puzzle-Gruppen
Nach der Expert*innenphase werden die Expert*innengruppe aufgelöst, und es bilden sich neue gemischte Gruppen (Puzzle-Gruppen), die aus je einem Mitglied jeder Expertengruppe bestehen.
Je nach Lernziel kann die Aufgabe für die Puzzle-Gruppe nun darin bestehen, gemeinsam ein Problem zu bearbeiten (z.B. eine Fallvignette zu lösen), indem das Expert*innenwissen aller Gruppenmitglieder eingesetzt wird, oder die Gruppenmitglieder erklären sich gegenseitig ihr Thema und stellen Nachfragen, bis alle Gruppenmitglieder alles verstanden haben. Hierfür ist es notwendig, dass jedes Mitglied der Expertengruppe das Thema gleich gut verstanden hat.
Nachdem alle Teilbereiche erklärt und diskutiert wurden, fasst die Puzzle-Gruppe das Wissen zusammen und verknüpft die einzelnen Bereiche zu einem Gesamtbild, bzw. zu einer Gesamtlösung für das bearbeitete Problem
3. Präsentation und Diskussion
Die Gruppen können nun ihre gemeinsamen Ergebnisse in der Gesamtgruppe präsentieren, oder die Lehrkraft kann eine Diskussion anregen, um die zentralen Erkenntnisse der verschiedenen Gruppen zusammenzuführen und zu bewerten.
Abbildung 4. Ablauf eines Expert:innenpuzzles. Eigene Darstellung.
Der Vollständigkeit halber möchte ich Ihnen noch Hinweise für didaktische Arrangements geben, die längerfristig angelegt sind. Ersten kann hier problem-based learning (auch Problem-basiertes Lernen, oder Problemorientiertes Lernen) genannt werden. Hierbei stehen komplexe Aufgabenstellungen im Mittelpunkt, um die herum sich Kleingruppen selbstorganisiert Lerninhalte erarbeiten, während sie durch Tutor*innen begleitet werden.
Wenn Sie noch tiefer in das Thema einsteigen möchten, finden Sie bei Moallem et al. (2019) ein Handbuch eigens zum Thema problem-based learning.
Ein weiteres, größeres Lehr-Lern-Arrangement findet sich unter dem Schlagwort knowledge-building communities oder knowledge building in the classroom. Hier steht der Gedanke im Mittelpunkt, dass eine Gemeinschaft von Lernenden (z.B., alle Studierenden in einer Vorlesung) gemeinsam Wissen zu einem Thema erarbeiten und kooperativ Ideen weiterentwickeln. Einen guten Ausgangspunkt für den Einstieg in dieses Thema findet sich bei Scardamalia und Bereiter (2021), die dieses Arrangement maßgeblich entwickelt haben.