Interaktion in Kleingruppen: Prozessverluste und Hemmnisse
Die Forschung zeigt, dass kooperatives Lernen großes Potenzial hat, nachhaltiges Lernen anzuregen. In der Realität kommt es jedoch häufig zu Prozessverlusten und unerwünschten Interaktionsmustern, die dies erschweren. Wissen über Prozessverluste und Hemmnisse bei Gruppenarbeit hilft Ihnen dabei, neue Arrangements für Gruppenarbeit in Ihren Lehrveranstaltungen zu entwickeln oder bestehende Arrangements weiterzuentwickeln.
Im ersten Moment erscheint Gruppenarbeit aufwändiger als allein zu lernen, da beispielsweise Kommunikation unter den Gruppenmitgliedern erforderlich ist (persönlich, via E-Mail, Messenger, etc.), um die Zusammenarbeit zu koordinieren. Gerade bei wenig komplexen Aufgaben übersteigen diese Prozesskosten die Vorteile von Kooperation (z.B., mehr vorhandene Ressourcen).
Neben diesen Prozessverlusten gibt es unterwünschte Interaktionsmuster, die das Lernen während der Gruppenarbeit beeinträchtigen und dazu führen, dass Gruppen hinter ihren Potenzialen zurückbleiben. Die aus unserer Perspektive zentralsten Herausforderungen für das Lernen in Gruppen sind Produktionsblockierung, soziales Faulenzen (Trittbrettfahrerphänomen) sowie die sich daraus ergebenden Motivationsverluste in der Gruppe (sucker effect), und die Tendenz, primär Ideen einzubringen, die von allen Gruppenmitgliedern geteilt werden (sampling bias).
Im Folgenden skizzieren wir diese Prozessverluste und unerwünschten Interaktionsmuster. Umfangreichere Übersichten zu typischen Herausforderungen und deren Ursachen finden sich bei Nokes-Malach et al., 2015, Nokes-Malach et al., 2019 und Strauß and Rummel (2021a)
Prozessverluste und unerwünschte Interaktionsmuster
Die bloße Zuordnung von Studierenden zu einer Gruppe und die Übertragung einer beliebigen Aufgabe an die Gruppe genügt nicht, um die Stärken kooperativen Lernens zu nutzen. Im ersten Moment ist Gruppenarbeit mehr Aufwand als allein zu lernen. Wenn Sie diese Interaktionsmuster kennen, können Sie Gruppenarbeitsphasen umsichtiger planen, um Ihre Studierenden beim Lernen zu unterstützen. Gestaltungshinweise für lernförderliche Zusammenarbeit beschreiben wir in den darauffolgenden Abschnitten.
Produktionsblockierung
Produktionsblockierung beschreibt den Umstand, dass individuelle Denkprozesse (Gedankengänge) unterbrochen werden, wenn anderen Gruppenmitglieder ihre Ideen laut äußern. Besonders deutlich sind die negativen Folgen von Produktionsblockierung beim Brainstorming in Kleingruppen (Stroebe & Nijstad, 2004): Äußern Gruppenmitglieder stetig neue Ideen, unterbrechen sie die Gedankengänge der anderen (d.h. die Suche nach Ideen im Langzeitgedächtnis). Die Studierenden müssen ihre gedankliche Suche also immer wieder neu starten.
Um Produktionsblockierung beim gemeinsamen Sammeln von Ideen abzuschwächen, kann die Methode des Brain Writing Pools eingesetzt werden.
Soziales Faulenzen
Eine weitere typische Herausforderung für Gruppen ist das soziale Faulenzen (social loafing, oder auch Trittbrettfahrerphänomen). Soziales Faulenzen beschreibt eine Herausforderung, die häufig auftritt. Von sozialem Faulenzen wird gesprochen, wenn sich ein einzelnes Gruppenmitglied kaum (oder gar nicht) in die Gruppenarbeit einbringt, beispielsweise selten auf Rückfragen antwortet oder zugewiesene Aufgaben nicht, oder nur gerade so eben, erledigt (Strauß & Rummel, 2021a).
Häufig sind es einzelne Gruppenmitglieder, die versuchen, diese wegfallende Arbeitskraft zu kompensieren. Soziales Faulenzen wird mit zunehmender Gruppengröße wahrscheinlicher, insbesondere dann, wenn die individuellen Beiträge zum Ergebnis der Zusammenarbeit nicht identifizierbar sind oder wenn die Studierenden die gemeinsame Aufgabe nicht als sinnvoll empfinden. Es zeigte sich, dass ungleichmäßige Beteiligung zu Unzufriedenheit in der Gruppe führt (Strauß & Rummel, 2021b). Auch aus einer Lernperspektive ist soziales Faulenzen ungünstig, da nicht alle Gruppenmitglieder an potenziell lernförderlichen Aktivitäten (wie Diskussionen, Erklärungen) teilnehmen. Außerdem fehlen die Perspektiven der Mitglieder, die sich nicht beteiligen.
Ein Phänomen, das sich aus sozialem Faulenzen ergeben kann, ist der sogenannte sucker effect (von engl. „sucker“ = Trottel). Dieses Phänomen beschreibt die Situation, dass sich dasjenige Gruppenmitglied, das versucht hat, den fehlenden Einsatz der anderen Gruppenmitglieder zu kompensieren, ausgenutzt fühlt (sich als der „Trottel“ oder „Depp“ fühlt) und daher die eigene Arbeit einstellt.
Nur über das sprechen, was alle eh schon wissen
Die Forschung zu Wissensaustausch in Kleingruppen hat gut dokumentiert, dass Kleingruppen dazu tendieren, vor allem über Ideen zu sprechen, die alle Gruppenmitglieder teilen bzw. über Informationen zu diskutieren, die alle Gruppenmitglieder haben (sampling bias, vgl. z.B., Brodbeck et al., 2007; Renkl, 2007). Dieses Phänomen ergibt sich vor allem daraus, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass eine Information besprochen wird, wenn mehr Gruppenmitglieder über sie verfügen. Außerdem erhalten Gruppenmitglieder in der Regel eine positive Rückmeldung durch die anderen Gruppenmitglieder, wenn sie etwas beitragen, was alle wissen oder dem alle zustimmen. Andersherum ist es schwieriger für Informationen, die nur einzelne Gruppenmitglieder haben (z.B., weil es ihr Fachgebiet ist), in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, denn die anderen Gruppenmitglieder können diese Informationen möglicherweise nicht so einfach mit ihrem Vorwissen oder ihren Entscheidungspräferenzen übereinbringen (z.B., Brodbeck et al., 2007).
Auf diese Weise profitieren die Gruppenmitglieder seltener vom individuellen (Fach-)Wissen der anderen Gruppenmitglieder. Einerseits kann die Gruppe ungeteiltes Wissen nicht für mögliche Entscheidungen für ein gemeinsam zu lösendes Problem heranziehen. Andererseits erhalten die einzelnen Gruppenmitglieder nicht die Möglichkeit, das Wissen zu erwerben, was nur einzelne Gruppenmitglieder mitbringen.
All diese Phänomene erschweren nicht nur das Lernen, sondern führen nicht selten zu einer Abwehrhaltung gegenüber Gruppenarbeit. In Anbetracht dieser Herausforderungen ist es für uns als Lehrende zentral, die Kooperation so zu gestalten, dass Prozessverluste reduziert werden und dass abträgliche Phänomene seltener auftreten. Gleichzeitig ist es auch wichtig, dafür Sorge zu tragen, lernförderliche Interaktionsmuster anzuregen.
Welche Interaktionsmuster besonders dabei helfen, neues Wissen zu erwerben und wie Sie diese Interaktionsmuster anregen können, beschreiben wir im nächsten Abschnitt. Diese Interaktionsmuster zu kennen, hilft Ihnen, didaktische Arrangements zu gestalten.