Vollständigkeitsfalle
Keine Frage: Ihr Fachwissen ist groß, egal in welcher der 21 Fakultäten oder sieben zentralen wissenschaftlichen Einrichtungen der Ruhr-Universität Bochum Sie tätig sind. Vielleicht kommt Ihnen der Gedanke „Die Studierenden müssen das alles wissen“ bekannt vor. Ich lade Sie zu einem Perspektivwechsel ein: Wissenschaft lebt von stets neuen Erkenntnissen, die einen alten Wissensstand erweitern, neue Fragen aufwerfen oder alte Resultate nichtig machen. Wie oft gab es, seit Sie in Ihrem Fach lehren, Veränderungen im Wissensstand? Verfügen Ihre Kolleg:innen, die zu anderen Facetten Ihre Fachs forschen und lehren, über genau denselben Wissensstand zu Ihrem Themenschwerpunkt wie Sie? Sie sehen: Die Idee einer Vollständigkeit „taugt in den meisten Unterrichtssituationen nicht als Richtschnur“, wie es Wüest (2015, 58) ausdrückt. Denn wenn sich stets „dieser Anspruch auf Vollständigkeit auf den aktuellen Stand des Fachwissens“ beziehe, sei diese „stets eine subjektiv gefärbte Vollständigkeit“ (ebd.).
Lehner (2006, 37 ff.) spricht deshalb von der „Vollständigkeitsfalle“ und wirft die These auf, dass eine höhere Stoffmenge zu einer geringeren Lernqualität führen könne. Inhalte auf den Punkt zu bringen sei „eine hohe Kunst“, denn wer Wesentliches vom Unwesentlichen trenne, dem werde mitunter eine Vereinfachung vorgeworfen. Das Gegenteil, nämlich der Versuch, alle Wissensinhalte vollständig zu vermitteln, führe zu einer zu großen Komplexität. Deshalb empfiehlt Lehner eine „Weniger-ist-mehr“-Haltung, und setzt Vollständigkeit und Gründlichkeit an zwei entgegengesetzte Pole. Vollständigkeit ist gekennzeichnet durch einen fachsystematischen oder ggf. chronologischen Ansatz und eine quantitative Orientierung („Je mehr Stoff, desto besser.“) Gründlichkeit hingegen zeichne sich durch die Reduktion auf das Wesentliche aus, „den fachlichen Kern und das zentrale Anliegen“. Im Vordergrund stehe das fachliche Denken und fachtypisches Lernen („Gründlichkeit setzt auf exemplarisches Lernen und fachliche Prototypen.“)
Abbildung 2: Pole Vollständigkeit und Gründlichkeit als Spannungsfeld. Quelle: eigene Darstellung
Wo genau Sie sich auf dem Kontinuum zwischen den Polen Vollständigkeit und Gründlichkeit positionieren, hängt u.a. von Ihrer Zielgruppe und der Zeit ab (mehr dazu in der 3-Z-Formel), deshalb sei darauf hingewiesen, dass es weder ein allgemeingültiges „Rezept“ gibt noch Sie sich immer an demselben Grad der Reduktion orientieren müssen. Sie können gute Gründe für eine (möglichst) vollständige Darstellung von Fachinhalten haben, Ihren Stoff zurückhaltend reduzieren, eine systematische Reduktion vornehmen, oder radikal alles aus der Stoffvermittlung streichen, was nicht zu den Kernbotschaften gehört (Wüest 2015, 62).
Zu Beginn haben Sie die Fachlandkarte kennengelernt, und – ggf. schon an Ihrem eigenen Beispiel – gesehen, dass diese mehr Inhalte umfasst als Sie in kurzer Zeit vermitteln können. Nehmen Sie sich diese als Grundlandschaft, stellen Sie sich vor, dass Sie nun an einigen Stellen Tiefenbohrungen vornehmen können. Mit dem Bild arbeitet Lehner (2006, 42f.), denn die einen Überblick gebende Grundlandschaft stelle „das Verbindende und Allgemeine“ dar, während die Tiefenbohrungen „für sorgfältige Vertiefungen und die intensive Auseinandersetzung mit dem Einzelnen und Wesentlichen“ z.B. in Form von Mustern oder Modellen etwas Fachtypisches aufzeigen. Gleichzeitig weist der Autor darauf hin, dass sich Vollständigkeit und Gründlichkeit nicht gegenseitig ausschließen: Exemplarische Beispiele lassen sich „so bestimmen, dass sie im Einzelnen stellvertretend das Ganze abbilden.“ (ebd., 49)
Abbildung 3: Grundlandschaft und Tiefenbohrungen (nach Lehner 2006).
Nehmen wir uns erneut das Beispiel vom Beginn heran: Die Grundlandschaft zur Europäischen Union ist grob skizziert in der Fachlandkarte. Sie möchten nun Tiefenbohrungen bei den Themenfeldern der EU-Institutionen, der Entscheidungsprozesse und dem EU-Recht vornehmen. Ihre Tiefenbohrungen können z.B. bei der EU-Kommission und dem Parlament und dem Verhältnis von EU- gegenüber National-Recht ansetzen. Mit dem Ziel, darüber mehr Wissen zu vermitteln, macht es keinen Sinn, auf die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 einzugehen oder auf das Schengener Abkommen, das den Grenzverkehr auch zu EU-Anreiner-Staaten regelt. Um fachliches Denken und fachtypisches Lernen zu fokussieren, können Sie die Studierenden z.B. einen Gesetzgebungsprozess der letzten Jahre exemplarisch analysieren lassen, um daraus die Erkenntnisse für Abläufe innerhalb der EU zu verdichten.